Belarus
26 October 2023

Natallja Mazkewitsch: „Jedes Gespräch mit den Vertretern des Regimes sollte mit der Frage beginnen: Warum werden in Belarus Menschen gefoltert?“

Präsidentschaftskandidaten sind in Belarus seit über einem halben Jahr in den Gefängnissen von der Außenwelt völlig abgeschnitten. Ein Interview mit ihren Anwälten

Natalia Matskevich and Viktar Matskevich© Image courtesy of Natalia Matskevich and Viktar Matskevich


Unter Tausenden von politischen Gefangenen in Belarus gibt es ganz besondere Häftlinge. Das sind Menschen, die nicht nur unrechtmäßig eine Gefängnisstrafe verbüßen, sondern – entgegen allen Vorstellungen von Recht, Moral und Menschlichkeit – jeglicher Verbindung zur Außenwelt beraubt werden. Was mit ihnen im Gefängnis passiert, wie es ihnen gesundheitlich geht, welche Bedürfnisse sie haben – das wissen nicht einmal ihre Familienangehörigen. Wie viele solcher Häftlinge es gibt, ist unbekannt. Doch vier von ihnen sind recht prominent. Darunter zwei Präsidentschaftskandidaten aus dem Wahljahr 2020: Sergej Tichanowski und Viktor Babariko, außerdem Nikolaj Statkewitsch, langjähriger politischer Widersacher von Alexander Lukaschenko, und Maria Kolesnikowa.

Über ihre Situation sprach OWM mit Natallja Mazkewitsch und Viktar Mazkewitsch, einst Anwälte von Sergej Tichanowski und Viktor Babariko.

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Sie beide waren jahrelang in Belarus als Anwälte tätig und haben beobachtet, wie die Rechtsstaatlichkeit in Belarus mit Füßen getreten wurde: Bereits nach den Präsidentschaftswahlen von 2006 und 2010 wurden die friedlichen Proteste mit roher Gewalt auseinandergetrieben. Schon damals wurden Präsidentschaftskandidaten zu Gefängnisstrafen verurteil und zwar in offensichtlich politischen Prozessen. Die Machthaber haben stets die Grenzen des Möglichen ausgelotet und getestet, wie weit man mit dieser Willkür gehen kann. Im Wahljahr 2020 wurden die wichtigsten Herausvorderer von Lukaschenko – Sergej Tichanowski und Viktor Babariko – verhaftet noch ehe sie sich überhaupt als Kandidaten registriert hatten. Auch ihre Wahlhelfer und Zigtausende von Unterstützern wurden festgenommen, Tausende davon zu Gefängnisstrafen verurteilt. Was meinen Sie, waren sich Ihre Mandanten – Viktor Babariko und Sergej Tichanowski – darüber im Klaren, dass ihnen eine Strafverfolgung drohen kann? Haben sie geahnt, dass sie zu den unglaublichen Haftstrafen von 14 bzw. 19,5 Jahren verurteilt werden können?

Natallja:

Ich glaube, auch wenn die beiden – jeder auf seine Art – mit diesem Gedanken gespielt haben mögen, haben sie dieses Ausmaß von Repressionen nicht erwartet. Denn beide, sowohl Sergej Tichanowski als auch Viktor Babariko, waren neu in der Politik.

Viktar:

Sergej Tichanowski gründete im März 2019 den YouTube-Kanal Ein Land zum Leben und postete zunächst Videos rund um das Unternehmertum. Später drehte er auf seinen Reisen in verschiedenen Orten auch Videos zu anderen Themen. Dabei ging es um alltägliche Sorgen der Bürger: Ein vernachlässigtes Viertel, eine nicht enden wollende Baustelle, ein baufälliges Gebäude. Er sprach solche Probleme öffentlich an, und glaubte, dass man diese dadurch lösen könnte. Und dann kamen Menschen mit ganz anderen Nöten auf ihn zu und er erzählte Geschichten über rechtswidrige Festnahmen, ging zu Gerichtssitzungen und zur Polizei. So erkannte er, dass Bürger von den Behörden bzw. den Staatsbediensteten verachtet werden und auch die wirtschaftlichen Probleme ohne einen Machtwechsel nicht zu lösen sind.

Natallja:

Eigentlich verkehrte Tichanowski, als er noch eher als Blogger wahrgenommen wurde, mit der alten belarussischen Opposition: Er machte Interviews mit den alten Oppositionellen und drehte sogar einen Film über die Massenproteste von 2010, zeichnete Gespräche mit Zeitzeugen auf. Deswegen gehe ich davon aus, dass er mit einer möglichen Verhaftung rechnen musste, als er daran dachte zu kandidieren. Obwohl er daran glaubte, dass die riesige Unterstützung, die er in der Bevölkerung genoss, ihn davor schützen würde.

Seltsamerweise scheint mir, dass Viktor Babariko hingegen damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Er kannte niemanden von der alten Opposition. Er setzte wohl eher auf eine korrekte Wahlkampagne, die ihm den Erfolg sichern sollte. Sein Sohn Eduard hatte ein junges Team aufgestellt, das dank der guten Ausbildung und Berufserfahrung im Management eine profunde Arbeit leistete. Viktor Babariko ging es anscheinend wie ein Manager an: Er kalkulierte alle objektiven Faktoren wie seine Fähigkeit, ein Team zu bilden, Ideen der Wahlkampagne zu formulieren, er schätzte seine Unterstützung in der Bevölkerung ein. Doch so etwas wie ein Brecheisen, das im Nu alle diese logischen Argumente zerschmettern kann, sah er wohl nicht kommen.

Viktar Babaryka with son EduardViktar Babaryka with son Eduard© Image courtesy of Viktar Babaryka HQ

Ich bekam Tichanowski erst zu Gesicht, als er bereits in Haft war. Dagegen gab Viktor Babariko uns das Mandat für seine Strafverteidigung, noch bevor er verhaftet wurde. In seinem Wahlbüro angekommen stellten wir fest, dass nicht alle mit unserer Anwesenheit glücklich waren. Mein Kollege erklärte Viktor Babariko, wie er sich beim ersten Verhör verhalten sollte, was alles nach der Festnahme passieren könnte, welche Kleidung er für diesen Fall vorbereiten sollte. Doch manchen Teammitgliedern gefiel das ganz und gar nicht: „Ihr Anwälte verunsichert nur, wir haben eine positive Einstellung und suchen nach konstruktiven Lösungen“, hieß es … Wir dagegen waren auf alles gefasst.

Viktar:

Ich kann die Logik von Viktor Babariko nachvollziehen: Er leitete die Belgazprombank, die größte Bank des Landes, eine mächtige Institution, wo alle Geschäfte nach Vorschrift abliefen, ein florierendes Unternehmen mit korrektem Management. In seiner Auffassung musste alles gesetzeskonform funktionieren und er ging davon aus, dass auch der Staat sich an das Gesetz hält.

Natallja:

Viktor Babariko baute seinen Wahlkampf auf positiven Botschaften auf, ohne direkt die Machthabenden zu kritisieren. Er sprach nur das an, was geändert werden sollte, um das Leben im Land zu verbessern. Und das tat er auch sehr umsichtig.

Wie haben Sie Ihre Verteidigungsstrategie für Tichanowski und Babariko aufgebaut?

Natallja:

Sergeij Tichanowski wurde für das verurteilt, was er als Blogger gesagt hatte. Mehr gab es da nicht an Tatbestand: Nur Worte! Das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft hat es so formuliert: Alles, was Tichanowski als Blogger in seinen Videos oder bei öffentlichen Auftritten von sich gegeben hatte, sei Hassrede und Aufrufe zu Massenunruhen gewesen. Folgt man dieser Logik, soll einer seit 2019 und bis zu seiner Verhaftung am 30. Mai 2020 immer wieder Dinge gesagt haben, die dann am 9. August zu Massenunruhen führten.

Syarhey Tsikhanouski doing a video at a picket line during the parliamentary elections in Belarus. Minsk, autumn of 2019Syarhey Tsikhanouski doing a video at a picket line during the parliamentary elections in Belarus. Minsk, autumn of 2019© Image courtesy of Sviatlana Tsikhanouskaya Office

Doch Tichanowski hat nie zu Protesten und schon gar nicht zu Massenunruhen aufgerufen. Er sagte nie: „Stimmt ab und geht dann auf die Straße!“, sondern: „Geht nicht wählen, alle sollen sehen, dass die Wahl gar nicht stattgefunden hat“. Er rief dazu auf, die Wahllokale erst gar nicht zu betreten und sich dann anzuschauen, wie man die nicht abgegebenen Stimmen auszählt. Das war seine Idee.

Später, als er bereits in Haft war, sammelten Menschen Unterschriften – für ihn als Kandidaten – stimmten für ihn und gingen anschließend auf die Straße. Und auch das nur aus Protest gegen die Gewaltanwendung seitens der Polizei und der Armee. Deswegen ist es recht zweifelhaft, wie Tichanowski die Proteste überhaupt bewirkt haben soll.

Nach internationalen Standards kann eine Freiheitsstrafe nur wegen Gewaltverbrechen verhängt werden. Wenn einer wegen seiner Worte ins Gefängnis kommt, ist es eine Verletzung der Rede- bzw. Meinungsfreiheit und das verhängte Strafmaß dafür ist unverhältnismäßig. Deswegen ging es bei der Verteidigung von Tichanowski – gleich nach seiner Festnahme bei einer friedlichen Mahnwache – um Menschenrechte.

Die Verteidigung von Viktor Babariko gestaltete sich komplizierter. Er hat nichts gesagt, was man als Kritik oder auch nur als inkorrekte Aussage auslegen könnte. Deswegen wurde er wegen angeblicher Korruption angeklagt. Ein Teil der Verteidigungsstrategie baute auf der Widerlegung der wirtschaftlichen Aspekte dieses Tatbestandes. Das haben hauptsächlich meine Kollegen übernommen. Ich habe mich darauf konzentriert nachzuweisen, dass mit diesem Verfahren keine Verfolgung einer tatsächlichen Straftat beabsichtigt wurde, sondern Babarikos Teilnahme an der Präsidentschaftswahl verhindert werden sollte. Im westlich Rechtssystem wird das als mutwilliger Missbrauch der Justiz bezeichnet. Im Grunde geht es darum, dass eine Person strafrechtlich nicht wegen einer Tat verfolgt wird, sondern wegen seiner selbst.

Damit haben Sie sich aber auf Glatteis begeben: Irgendjemand musste ja dieser Mutwilligkeit überführt werden, oder?

Natallja:

Wegen der Unschuldsvermutung konnten wir keine konkreten Menschen dessen anklagen, doch ich konnte unter anderem anhand von Medienberichten belegen, was Lukaschenko öffentlich gesagt und wie Viktor Babariko darauf reagierte hatte. Worauf wiederum Lukaschenko etwas geantwortet hatte. Zwischen den beiden fand eine Zeit lang eine Art öffentliche politische Diskussion statt und – seltsamerweise – wurde Viktor Babariko ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auch verhaftet. Nur ein Beispiel: Lukaschenko warf Babariko öffentlich vor, durch Betrug zu Geld gekommen zu sein. Dann behauptete er bei einer Sitzung, dass mit dem Geld der russischen Oligarchen die radikale Opposition in Belarus an die Macht gebracht werden solle und warnte, dass er das Land an niemanden abtreten würde. Tags darauf konterte Viktor Babariko: „Niemand darf unser Land als seinen Besitz betrachten.“

Außerdem sprach ich vor Gericht die Ermittlungsmethoden an: Es gab grobe Verstöße gegen die Rechte des Angeklagten, die Unschuldsvermutung galt für ihn nicht, die Ermittlung lief klar auf die Anklage hinaus, die Argumente, die die Unschuld von Viktor Babariko bestätigten, wurden ignoriert und seine Verteidigung generell behindert.

Viktar BabarykaViktar Babaryka© Image courtesy of Viktar Babaryka HQ

Mein Plädoyer war keine politische Rede. Ich bediente mich der Sprache der Justiz. Das war ein offener Prozess und wir führten dem Publikum vor, dass die Korruptionsanschuldigungen unbegründet und die politischen Motive der Anklage offensichtlich waren. Ich glaube, dass Menschen in diesem und ähnlichen Prozessen mehr den Anwälten, als den Anklägern Glauben schenken. Das war auch der Grund dafür, dass es später keine öffentlichen Sitzungen mehr gab. Der Prozess im Fall Tichanowski begann Anfang Juni 2021 und fand hinter den Mauern des Untersuchungsgefängnisses der Stadt Gomel statt.

Ihnen wurde daraufhin die Anwaltslizenz entzogen…

Natallja:

Sämtlichen Anwälte, die für Viktor Babariko gearbeitet hatten, wurden die Lizenzen entzogen. Der Anwalt Maxim Znak wurde zur Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Dem Rechtsanwalt Alexander Pyltschenko wurde die Lizenz 2020 entzogen, im Sommer bzw. im Herbst 2021, nach dem Gerichtsurteil gegen Babariko, dann Dmitri Lajewski, Jewgeni Pyltschenko und mir. Viktar Mazkewitsch war dann im Dezember 2022 dran. Der letzte Anwalt aus dem Babariko-Team wurde im März 2023 festgenommen. Danach schied er aus der Anwaltskammer aus und verließ Belarus.

Alle Verteidiger von Tichanowski wurden ebenfalls nach und nach abserviert: Olga Barantschik im Frühjar 2021, ich im Oktober 2021 und schließlich ein Jahr darauf auch Viktar. Innessa Olenskaja wurde am 20. März 2023 festgenommen und auch ihr wurde die Lizenz entzogen.

Also war der 11. Oktober 2021 mein letzter Tag im Prozess von Sergej. Am selben Abend wurde ich auf Befehl des Justizministeriums abberufen: Gegen mich wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ich wurde später aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Als mir dann die Anwaltslizenz entzogen wurde, übernahm Viktar die ganze Arbeit im Prozess. Wir haben Tichanowski vom ersten Tag an gemeinsam verteidigt. In den Prozess von Viktor Babariko stieg er erst ein, nachdem ich keine Lizenz mehr hatte, und führte dann beide Prozesse als Verteidiger über ein Jahr lang weiter.

Gab es damals noch Hoffnung, dass Ihren Mandanten geholfen werden kann?

Viktar:

Als ich die Verteidigung von Viktor Babariko übernahm, saß er bereits schon längere Zeit in der Strafkolonie ein. In seiner Sache wurde zuvor eine Klage bei der Menschenrechtskommission der UNO eingereicht. Daher bestand meine Aufgabe darin, Interessen meines Mandanten zu vertreten, während er die bereits verhängte Strafe verbüßte. Er genoss auch die besondere Aufmerksamkeit der Verwaltung der Strafkolonie.

Natallja:

In der Strafkolonie war es grundsätzlich verboten, mit Viktor Babariko zu sprechen: Niemand durfte sich ihm nähern, sonst drohte Bestrafung. Wer nur versuchte, ihm eine Tasche rüberzureichen oder ihn anzusprechen, kam in Isolationshaft.

Sergej Tichanowski verbrachte die ganze Zeit in Einzelhaft. Außer Gefängniswärtern waren Rechtsanwälte die einzigen Personen, die er zu Gesicht bekam. Wir leisteten also den juristischen Beistand, waren aber auch sein einziger Umgang.

Und bis zu dem Zeitpunkt, als Viktar ebenfalls die Lizenz entzogen wurde, fuhr er zu Tichanowski und Babariko. Viktar fand immer wieder Wege zu reagieren, wenn auf die beiden Druck ausgeübt wurde: Er machte Termine beim Staatsanwalt aus, reichte entsprechende Klagen ein. Ja, es war klar, dass Tichanowski in Einzelhaft war und Babariko schwere Arbeit verrichten musste, doch wir wussten, dass die beiden – in jeder Hinsicht – unversehrt waren. Bereits im vergangenen Jahr hat man den beiden kaum noch Briefe zugestellt, doch es gab die letzte Verbindung zu ihnen: Briefe der Familienangehörigen.

Doch wie geht es den beiden jetzt? Seit März dieses Jahres haben wir keine zuverlässigen Informationen mehr. Es gibt keine Briefwechsel, keine Anwaltsbesuche, keine Verbindung zur Außenwelt. Die beiden sind völlig isoliert. Es ist nicht einmal klar, ob sie überhaupt noch leben.

A drawing by Agnia Tsikhanouskaya that she sent to her father in prisonA drawing by Agnia Tsikhanouskaya that she sent to her father in prison© Image courtesy of Sviatlana Tsikhanouskaya Office

Kann man keine Informationen über diese Häftlinge einholen? Könnte man eventuell über Beziehungen zu den Ermittlungsbehörden oder die Verwaltung der Strafkolonie etwas herausfinden?

Viktar:

Unsere Mandanten sind aktuell dem Justizvollzug völlig ausgeliefert. Zuvor konnten Rechtsanwälte Anfragen an Behörden stellen: An die Verwaltung der Strafkolonie oder des Gefängnisses, an die übergeordnete Behörden bis hin zum Departement für Strafvollzug im Justizministerium. Ich schätze, dass dies aktuell die Verwandten machen, doch dies bleibt seit über einem halben Jahr ohne Wirkung.

Natallja:

Anfang Juli 2023 gab es eine inoffizielle Information: Tichanowski sei im Gefängnis verstorben. Daraufhin richtete ein ВВС-Korrespondent bei einer Pressekonferenz diese Frage direkt an Lukaschenko. Dieser bezeichnete es als „Gerücht“. Bereits am gleichen Tag erschien auf einem regierungsnahen Telegram-Kanal ein Kurzvideo: Man konnte Tichanowski in seiner Gefängniszelle sehen. Obwohl das nicht der Normalität entsprach … Es ist nicht normal, dass man Informationen über einen Inhaftierten nur auf diese Weise und nicht auf dem regulären Weg über seine Rechtsvertreter aus dem Briefwechsel oder telefonisch erhalten kann. Dennoch waren wir erleichtert. In diesem Kurzvideo konnte man sehen, dass Tichanowski in einigermaßen guter Verfassung war; man konnte seine Kleidung, das Geschirr, die Einrichtung seiner Zelle sehen. Doch angesichts der fehlenden regulären Kommunikation konnte man auch nicht sicherstellen, ob diese Aufnahmen aktuell waren.

Auch zu Viktor Babariko ließ Lukaschenko damals etwas wissen: Angeblich habe er mit dem Justizminister telefoniert, der bestätigte, dass alles in Ordnung sei: „Er näht etwas oder arbeitet in der Heizzentrale.“ Doch wäre es nicht einfacher, seinem Rechtsanwalt einen Besuch zu gestatten, um das zu erfahren?

Im April 2023 hieß es, dass Viktor Babariko angeblich schwer verprügelt worden und deswegen sogar im Krankenhaus war. Konnten Sie dazu etwas herausfinden?

Natallja:

Dazu ist nichts bekannt. Die einzige Information, die die Angehörigen haben, ist seine Diagnose: Pneumothorax. Den Ärzten hatte man noch nicht verboten, über ihn zu reden. Doch wie es dazu kam, ist unklar. Anfangs hieß es: Man würde ihn über ein paar Tage im Krankenhaus behalten und auf chronische Krankheiten untersuchen. Doch kurz darauf wurde er zurück in die Strafkolonie gebracht.

So etwas wird uns nun als Normalzustand aufgezwungen. Und wir weichen Schritt für Schritt zurück, geben dieser Verrohung nach und sind mittlerweile am Abgrund angelangt: Wir wissen nicht, wie es den Häftlingen geht, was ihnen alles angetan wird. Damit müssen wir leben. Das wird kaum noch öffentlich angesprochen. Menschen lösen sich in unserer Wahrnehmung auf. Sie sind noch irgendwo da draußen, aber wir haben andere Sorgen: Reisepässe, weitere Probleme von Belarussen im Exil. All das ist auch wichtig. Doch wir sind ja nicht im Gefängnis.

Wir wissen, dass es kein Normalzustand ist. Aber was ist es dann? Wenn man die Situation auf das Wesentliche reduziert, heißt es etwa, dass das Regime diese Menschen umbringt?

Natallja:

Auf jeden Fall ist das Folter: Menschen jegliche Verbindung zur Außenwelt zu verweigern, das gilt nach internationalen Rechtsstandards als Folter, selbst wenn diese Menschen dabei physisch unversehrt bleiben. Unter diesen Umständen erhält ein Mensch keinen Rechtsbeistand und ist somit auch kein Rechtssubjekt mehr. Im Mai 2023 wurde das von Sonderberichterstattern der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen so formuliert: „Die Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt, bei der ein Risiko des gewaltsamen Verschwindens von Inhaftierten besteht, ist ein Anzeichen für eine Bestrafungsstrategie der politischen Gegner sowie von Vertuschung der Misshandlungen und Folter durch Strafverfolgungsbeamte und Gefängnisbehörden.“

Wie kann so etwas unbestraft bleiben?

Natallja:

Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es mehrere Ebenen der Strafverfolgung. Handelt es sich um einen Verstoß gegen internationale Verpflichtungen eines Staates – und davon gibt es aktuell viele, wie der Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und ein faires Verfahren, darauf, nicht gefoltert zu werden und auf Nichtdiskriminierung aufgrund der politischen Meinung bzw. gegen das Recht auf Meinungsfreiheit sowie das Recht auf friedliche Kundgebungen –, bei einem solchen Verstoß ist der Staat dafür verantwortlich. Und genau um diese Verstöße festzustellen und die Verantwortung des Staates dafür einzuklagen, wurden auch Klagen beim Menschenrechtskomitee der UNO eingereicht. Und der Staat wird dafür irgendwann künftig unbedingt zu Rechenschaft gezogen!

Wenn es sich um personelle strafrechtliche Verantwortung einzelner Regimevertreter handelt, so gilt die Unschuldsvermutung und ohne Gerichtsurteil kann keiner als schuldig angesehen werden. In diesem Fall bedarf es einer ordentlichen Ermittlung und eines Gerichtsverfahrens. Dafür sind die Voraussetzungen bereits erfüllt: Internationale Institutionen haben mittlerweile kommuniziert, dass in Belarus ein begründeter Verdacht auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht. Dazu zählen auch Foltermethoden wie die Inhaftierung ohne Verbindung zur Außenwelt, wenn diese Verbrechen im Kontext einer gezielten bzw. weitreichenden Politik erfolgen.

Sviatlana Tsikhanouskaya in the European ParliamentSviatlana Tsikhanouskaya in the European Parliament© Image courtesy of Sviatlana Tsikhanouskaya Office

Wie realistisch ist unter den aktuellen Umständen ein Internationales Tribunal?

Natallja:

Das ist schwer zu sagen. Internationale Strafverfahren können auf verschiedene Weise zustande kommen. Das kann ein internationales Strafgericht sein, ein Ad hoc-Tribunal (für einen speziellen Fall), oder auch im Rahmen einer universellen Gerichtsbarkeit (wenn ein Verbrechen, das in einem Land begangen wurde, in einem anderen Land strafrechtlich verfolgt werden kann).

Allerdings sprengt die Verwirklichung dieser Idee den üblichen Rahmen. Die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs gilt in diesem Fall nicht direkt, da Belarus dessen Statut nicht ratifiziert hat. Um dessen Zuständigkeit für die Taten, die in Belarus begangen wurden, zu erreichen, bedarf es massiver Arbeit und Entschlossenheit. Man müsste einen Präzedenzfall schaffen, was erlauben würde, ein Verfahren durch andere Staaten einzuleiten. Ein Sondertribunal generell und für Belarus im Einzelnen kann nur auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates eingerichtet werden. Oder eben aufgrund eines entsprechenden Abkommens zwischen anderen Staaten.

Doch auch wenn diese Hürden – durch welche Anstrengungen und Mechanismen auch immer – einmal überwunden sein sollten und ein Tribunal für Belarus eingerichtet werden sollte: Wie wird sich das auf die potenziellen Angeklagten auswirken, die für dieses Tribunal immer noch unerreichbar blieben?

Auch wenn so eine Institution wie ein Sondertribunal für Belarus tatsächlich eingerichtet werden sollte: Wie könnte das unter den aktuellen Umständen die Gefängnistüren öffnen und die dringend notwendige Hilfe für Tichanowski, Babariko, Statkewitsch, Kolesnikowa und all die anderen leisten, die sich in einer kritischen Situation befinden?

Ich will die Idee einer internationalen Strafverfolgung an sich nicht entwerten. Sie ist an sich sehr wertvoll, um – wenn auch nicht jetzt, dann zumindest künftig – sowohl die Menschenrechtsverletzungen und internationale Verbrechen zu benennen als auch die Namen der Menschen öffentlich zu machen, die dafür verantwortlich ist.

Und was kann man jetzt schon tun?

Natallja:

Das ist eine Aufgabe, die erst noch gelöst werden muss. Derzeit sehe ich keine effizienten Möglichkeiten, unseren Mandanten zu helfen, so leid es mir tut. Das Einzige, was wir aktuell tun können, ist, sie nicht zu vergessen und sich gegen dieses Geschehen aufzulehnen. Wir müssen mit diesem Thema in der Öffentlichkeit präsent bleiben und es bei jeder Gelegenheit ansprechen. Jedes Gespräch, das Journalisten, Politiker oder Geschäftsleute mit den Vertretern des Regimes führen, sollte mit der Frage beginnen: „Warum werden in Belarus Menschen gefoltert?“. Und dann sollten deren konkrete Namen benannt werden.

Es ist wichtig, vor Augen zu haben, dass gerade Viktor Babariko und Sergej Tichanowski Menschen mobilisieren konnten, dass viele bereit waren, diese beiden zu wählen. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Legitimierung sich in Luft auflöst und ihre Namen in Vergessenheit geraten. Denn genau das wird mit deren völliger Isolation ganz offensichtlich bezweckt.

Aus dem Englischen übersetzt von Elena Cueto Chavarría