Von Karabach nach Kramatorsk
Die vielen Etappen der erzwungenen Umsiedlung von Armenierinnen und Armeniern: die Folgen des Karabach-Konflikts
© Har Toum
Im September 2023 sahen sich infolge der militärischen Aggression Aserbaidschans gegen die Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach mehr als 100.000 Menschen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Sie mussten umgehend von Stepanakert nach Armenien evakuiert werden. Für viele der Bewohnerinnen und Bewohner Berkarabachs war das nicht die erste Fluchterfahrung. Zuvor gab es die Pogrome in Sumgait und Baku, den Krieg Anfang der 1990er Jahre, den sogenannten 44-Tage-Krieg von 2020, die ethnischen Säuberungen von 2023: Wegen all dieser Ereignisse sind mehrere Hunderttausend Armenierinnen und Armenier seit über 30 Jahren gezwungen, eine Zuflucht und ein neues Zuhause in sehr verschiedenen Ländern zu suchen. Die Kulturanthropologin Eviya Hovhannisyan zeichnet den traumatischen Weg von Menschen nach, die fast ihr ganzes Leben lang vor Kriegen flüchten mussten und deren Leben von mehrfachen Fluchterfahrungen geprägt ist. Und sie zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen diese Menschen konfrontiert sind. Sie stützt sich dabei auf Geschichten, die sie bei ihren Feldforschungen gesammelt hat. [∗]
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In Goris kam ein Mann mittleren Alters auf mich zu, als er sah, dass ich Dienstkleidung trug. Am 28. September 2023 war auch er gezwungen, infolge der militärischen Eskalation Aserbaidschans und der anschließenden Massenflucht der armenischen Bevölkerung von Karabach nach Armenien auszureisen.
„Sind Sie aus Armenien? Wissen Sie, wo Tschambarak liegt? Das Mädchen, das in der Meldebehörde arbeitet, hat mir gesagt, dass es nicht weit von Jerewan entfernt sei, nur 40 Minuten. Meiner Familie und mir wurde dort ein Haus angeboten, aber wir wissen nicht, ob wir dorthin ziehen sollen oder nicht. Wir sind bereits dreimal umgezogen, das erste Mal 1990 vom Dorf Surnabad in der Region Chanlar nach Gadrut, 2020 von Gadrut nach Stepanakert, und jetzt wissen wir nicht, wohin wir als nächstes gehen sollen.“
„Nein, man hat Ihnen etwas Falsches gesagt: Tschambarak liegt jenseits von Sewan, in Richtung Idschewan, nicht weit von der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Das sind etwa zweieinhalb Stunden Fahrt von Jerewan.“
In jenen Tagen kamen in den sozialen Netzwerken Meldungen auf, dass einige der Binnenflüchtlinge aus Arzach in den Grenzdörfern der armenischen Region Tawusch angesiedelt werden sollten: Tschinar, Tschintschin, Berd ... . Ich war innerlich entrüstet und fluchte: Es ist doch unmöglich, diese Menschen vom Regen in die Traufe zu schicken. Ein Teil des Ackerlandes des Dorfes Tschintschin ist für die lokale Bevölkerung unzugänglich: Das Gebiet steht unter direkter Aufsicht der aserbaidschanischen Grenzsoldaten. Hier und da wurden im Dorf Schilder aufgestellt, die vor möglichem Beschuss warnen. Das heißt, den zwangsumgesiedelten Familien aus Karabach wird angeboten, an einen Ort zu gehen, an dem die tägliche Angst vor einer möglichen Eskalation des Krieges fortbesteht.
Ich musste an zwei Geschichten denken, die ich 2019 in Charkiw aufgezeichnet hatte։ mehrfache, erzwungene Umzüge von Familien, die vor endlosen Konflikten fliehen und jedes Mal ein aufgebautes Haus, eine Arbeit, ein soziales Umfeld, Erinnerungen zurücklassen...
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Die späten 1980er und die erste Hälfte der 1990er Jahre waren durch die militärische Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan und von massiven Zwangsumsiedlungen in beiden Ländern bestimmt. Der Zusammenbruch der UdSSR führte zu Konflikten (einschließlich territorialer und ethnischer Konflikte), die häufig bewaffnete Auseinandersetzungen auslösten. Der schon seit der Sowjetzeit schwelende Territorialkonflikt zwischen den beiden Nachbarländern um das autonome Gebiet Bergkarabach, das zu Aserbaidschan gehörte, aber überwiegend von Armeniern bewohnt war, entwickelte sich zu einem Krieg zwischen den nunmehr unabhängigen Staaten. [1] Infolge der militärischen Auseinandersetzungen waren auf beiden Seiten insgesamt etwa eine Million Menschen gezwungen, von Aserbaidschan nach Armenien umzusiedeln, und umgekehrt.
Anfang der 1990er Jahre befand sich Armenien nach dem verheerenden Spitak-Erdbeben im Norden des Landes (am 7. Dezember 1988) in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage. Die Situation wurde durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und den darauffolgenden Krieg sowie die Wirtschaftsblockade des Landes noch verschärft. Armenierinnen und Armenier aus Aserbaidschan zogen irgendwo hin, wo es zumindest eine gewisse Möglichkeit gab, Arbeit und Unterkunft zu finden.
Die Umsiedlung von Geflüchteten erfolgte sowohl geplant, wenn beispielsweise ganze Siedlungen den Umzug organisierten, als auch spontan, wenn einzelne Familien umsiedelten. In den meisten Fällen siedelten Armenierinnen und Armenier aus Aserbaidschan auf eigene Faust um, ohne die Beteiligung und Unterstützung des Staates. Als es offensichtlich wurde, dass sich der Konflikt zwischen den Staaten verschärfte, begannen die Menschen nach Häusern (Wohnungen, Siedlungen) zu suchen, die sie mit Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschanern aus Armenien tauschen konnten. Allmählich wurde dieses Phänomen allgegenwärtig: Armenier und Aserbaidschaner tauschten Häuser, unterzeichneten informelle Vereinbarungen, stellten Dokumente über den Immobilientausch aus, verkauften und kauften neue Häuser. [2] Dies erleichterte zweifellos den Umsiedlungsprozess: So wussten viele Familien bereits im Voraus, wohin sie umziehen mussten. Sie hatten dadurch die Möglichkeit, dem vorgeschlagenen Tausch zuzustimmen oder ihn abzulehnen und eine andere, günstigere Option zu finden. [3] Oft reisten ganze Familien an, um das künftige Haus zu besichtigen: Sie lernten so die Gegend kennen, erlebten die Dorfbewohner und ihren Alltag, konnten die Möglichkeiten einschätzen, eine Arbeit zu finden, und beurteilen, ob die zu tauschenden Immobilien ungefähr gleichwertig waren.
Der Umsiedlungsprozess verlief in Etappen: Fast drei Jahre lang
So konnten einige Armenier aus Aserbaidschan Wohnungen mit Aserbaidschanern aus Armenien tauschen. Andere konnten ihr Eigentum in Aserbaidschan verkaufen und mit dem Erlös ein Haus in Armenien kaufen. Andere wiederum hatten alles verloren und zogen nach Armenien, in der Hoffnung, von Verwandten und dem damaligen sowjetischen Staat Unterstützung zu bekommen. Und schließlich zogen manche aus Aserbaidschan in andere Länder – in die Ukraine, nach Turkmenistan oder Tadschikistan. Bei dieser letzten Gruppe von Armeniern, die in andere sowjetische/postsowjetische Republiken auswanderten, spielten mehrere Faktoren eine Rolle: die gewohnte (sprachliche oder soziokulturelle) (post)sowjetische Umgebung im Zielland, die Tatsache, dass dort mehrere armenische Familien in der Nähe lebten, sowie bessere Arbeitsmöglichkeiten etc.
Die erzwungene Migration der armenischen Bevölkerung aus Aserbaidschan in den späten sowjetischen und frühen postsowjetischen Jahren vollzog sich häufig in mehreren Etappen, beispielsweise zuerst von Aserbaidschan in eines der Länder Zentralasiens, nach einiger Zeit weiter nach Armenien und anschließend nach Russland, in die Ukraine etc. Die Berichte armenischer Geflüchteter über diese sich in mehreren Etappen vollziehende Migration geben Aufschluss über die Wahl ihrer weiteren Migrationswege und ihre Umsiedlungsstrategien.
Alla (alle Namen im Text sind geändert) stammt ursprünglich aus Aserbaidschan:
„Als sich die Lage zuspitzte, waren wir gezwungen, Baku zu verlassen. Zuerst gingen wir nach Wolgodonsk, da der Bruder meines Mannes dort lebte. Aber wir blieben dort nicht lange … Ein Jahr später zogen wir nach Armenien. Wolgodonsk gefiel mir nicht, es war eine völlig neue Stadt mit einer sehr jungen Bevölkerung. Die Leute kamen aus der ganzen Sowjetunion dorthin. Es war wie ein Komsomol-Bauprojekt [Komsomol war die offizielle Jugendorganisation der UdSSR, deren Mitglieder u.a. an mehreren großen Bauprojekten der Sowjetunion arbeiteten. –
Das Beispiel von Allas Familie zeigt, dass die Menschen nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen des Wohnraums umzogen, sondern vor allem wegen der Sicherheit ihrer Familien. Besonders deutlich wurde dies in Gesprächen mit Geflüchteten, die gezwungen waren, Baku zu verlassen, und die es für gefährlich hielten, in multiethnischen Städten zu leben. In den ersten postsowjetischen Jahren waren ethnische Intoleranz und Kriminalität in solchen Städten recht häufig. Daher tendierten die Geflüchteten dazu, in Orte zu ziehen, wo mehrere armenische Familien in der Nähe lebten. Dies war der Grund, weshalb Allas Familie von Wolgodonsk nach Jerewan zog. „Die Kinder integrierten sich sehr schnell in die armenische Gemeinschaft und lernten schnell die Sprache, in Baku dagegen hatten wir Russisch gesprochen. Meine jüngste Tochter lernte Armenisch schneller als alle anderen. Sie war zu der Zeit vier oder fünf Jahre alt. Die anderen Kinder lernten es in der Schule. Für meinen Mann und mich war es schwieriger, aber auch wir haben es irgendwann gelernt. Ein Jahr später sprachen die Kinder bereits fließend Armenisch. Ich bekam einen Job in einer Sparkasse und begann, armenische Buchstaben zu lernen und sogar auf einer Schreibmaschine zu tippen. Das war im Jahr 1992.“
In den frühen 1990er Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in Armenien weiter. Die Spannungen zwischen der einheimischen armenischen Bevölkerung und den Geflüchteten aus Aserbaidschan nahmen zu. Viele Geflüchtete, die sich in ehemaligen aserbaidschanischen Häusern und Dörfern in Armenien niederließen, konnten sich (aus wirtschaftlichen und soziokulturellen Gründen) nicht an die neuen Lebensbedingungen anpassen. In den ersten Jahren der Umsiedlung verließen viele von ihnen Armenien wieder und verkauften ihre Wohnungen, Häuser und Grundstücke an Einheimische zu niedrigen Preisen. Dies war hauptsächlich bei russischsprachigen Geflüchteten aus aserbaidschanischen Großstädten der Fall: Sie sprachen kein Armenisch und hatten keine Kenntnisse und Fähigkeiten in der Landwirtschaft, da sie vor ihrer Umsiedlung in verschiedenen Industriebranchen gearbeitet hatten.
Für die Entfremdungserfahrungen der Geflüchteten in den ersten Jahren der Neuansiedlung spielten sprachliche und berufliche Faktoren eine große Rolle. Die meisten Geflüchteten sprachen Russisch. Diejenigen von ihnen, die vor der Umsiedlung in Aserbaidschan in Städten lebten, hatten russischsprachige Schulen besucht. Außerdem sprachen sie Aserbaidschanisch und einen lokalen armenischen Dialekt, der sich stark von Hocharmenisch unterschied. „In Armenien nannte man uns ,umgekehrte Armenier‘ [shurtævats], weil wir kein Armenisch sprachen und in einem aserbaidschanischen Umfeld aufgewachsen waren. Vor etwa 20 Jahren hatten wir es in Jerewan sehr schwer, man mochte dort aserbaidschanische Armenier nicht, und wenn ich Russisch sprach, antworteten sie mir nicht einmal. Sie sagten: „Du bist doch Armenierin, warum kannst du kein Armenisch?“, fährt Alla mit ihrer Geschichte fort. Aus genau diesen Gründen verließen viele geflüchtete Familien Armenien, um in andere Länder zu ziehen.
Alla hat drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, die heute alle im ostukrainischen Charkiw leben. „1994 haben wir Armenien endgültig verlassen. Wir behielten das Haus, um zurückkommen zu können. Ich überließ die Schlüssel meinem Bruder, damit er sich ab und zu um die Wohnung kümmert. Aber sechs Jahre später, als klar war, dass wir nicht mehr zurückkommen würden, beschlossen wir, die Wohnung zu verkaufen und hier eine neue zu kaufen. Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Kinder bereits die Schule beendet, das Studium abgeschlossen, einen Job gefunden, meine älteste Tochter hatte geheiratet ... Wenn meine Kinder bei mir geblieben wären, wäre ich zurückgegangen. Aber sie wollten nicht mit zurückkommen.“ Aus verschiedenen Gründen versuchten Geflüchtete, ihre Häuser in Armenien zu behalten: Erstens konnten sie so irgendwann in ihr ethnisches Heimatland zurückkehren [5]. Zweitens war das eine Art Absicherung für den Fall möglicher neuer Zwangsumsiedlungen. Drittens wollten die Geflüchteten manchmal ihre Häuser in Armenien nicht verkaufen, da sie an den Orten, an denen sie neu angesiedelt wurden, kein anderes Eigentum hatten. Nach dem Umzug nach Charkiw lebte Allas Familie zunächst im Haus von Allas Schwager und mietete dann für einige Zeit eine Wohnung. Nachdem Alla die Wohnung in Jerewan verkauft hatte, konnte die Familie ein Grundstück in Charkiw erwerben. Auf diesem Grundstück bauten sie ein Haus, in dem Alla mit ihrem Mann und zwei Kindern lebte, bis Russland 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann.
So wechselten die Flüchtlinge mehrfach ihren Wohnort aufgrund unterschiedlicher Erwägungen: Meistens waren es familiäre Bindungen, für manche war wiederum ein russischsprachiges Umfeld entscheidend oder der Umzug an einen Ort, an dem armenische Familien in der Nähe lebten. Für andere waren wirtschaftliche Erwägungen und Beschäftigungsmöglichkeiten ausschlaggebend. Solche Beispiele gibt es viele. Menschen, die um ihre Sicherheit und die ihrer Familien besorgt waren, flohen von Aserbaidschan nach Armenien, von Armenien nach Russland, Zentralasien, in die Ukraine oder in andere Länder. „Während der Pogrome in Aserbaidschan tauschten wir unser Haus in Schamchor gegen ein Haus im Dorf Schischkaja [heute Gegamasar, Armenien –
Anfang der 1990er Jahre kehrten er und seine Familie aus Zentralasien nach Schischkaja in ihr Haus zurück. Hier verdienten sie ihr Geld zunächst mit Kleinhandel und Autoreparaturen. Doch die Bedingungen in Armenien waren äußerst schwierig, und bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre flogen Alexej und seine Familie mit einem Frachtflugzeug von Armenien nach Krasnodar. „Ich fuhr mit diesem Auto hier direkt an Bord des Frachtflugzeugs, und so verließen meine Familie und ich Armenien. Wir wurden in Krasnodar abgesetzt, von dort aus fuhren wir einfach los, fuhren bis nach Kramatorsk, wo das Auto eine Panne hatte. Wir blieben dort. Und leben hier nun schon seit 25 Jahren.“
Alexej baute mit seiner Frau und seinem Sohn 15 Jahre lang ein Haus in Kramatorsk. Einige Zeit nach dem Umzug dorthin zog Alexejs Mutter zu ihnen. Nach ihrem Tod setzte er ihr ein Denkmal mit dem Bild vom Grabe seines Vaters, der noch in Aserbaidschan gestorben war. Diese Praktik der „Mitnahme“ von Gräbern ist unter armenischen Geflüchteten sehr verbreitet. Oft findet man auf den Grabsteinen von vertriebenen Armeniern Fotos und Namen von Menschen, die vor Beginn des Konflikts gestorben waren.
Es lassen sich verschiedene Wege der Umsiedlung von Armenierinnen und Armeniern aus Aserbaidschan nachzeichnen. Viele Faktoren bestimmten jeweils die Wahl jeder nächsten Etappe: Zunächst konnten einige ihre Häuser in Aserbaidschan gegen Häuser in ehemals von Aserbaidschanern bewohnten Dörfern in Armenien eintauschen, andere zogen nach Zentralasien. Dort gab es in den frühen postsowjetischen Jahren gewisse Möglichkeiten, Geld zu verdienen und es war möglich, das Kaspische Meer per Schiff zu überqueren. Viele kehrten jedoch aufgrund der ethnischen Zusammenstöße in den frühen 1990er Jahren aus Zentralasien nach Armenien zurück. Aufgrund der wirtschaftlich ungünstigen Bedingungen verließ ein Teil der Geflüchteten später Armenien in Richtung Russland und anderer Länder. Im Zuge dieser Migrationspraktiken, die mehrere Etappen umfassten, zogen die Armenier nicht nur von Ort zu Ort, sondern schufen auch ein komplexes Netzwerk transnationaler und familiärer Bindungen, sammelten Wissen und Strategien für künftige mögliche Umzüge. Armenierinnen und Armenier, die aus Aserbaidschan flohen, bildeten komplexe interkulturelle Netzwerke, sowohl in anderen postsowjetischen Staaten als auch zu Verwandten, die in Armenien blieben. Es sind gerade diese Netzwerke, die häufig die Wahl jedes nachfolgenden Umzugsziels beeinflussen und neue, noch komplexere verwandtschaftliche Beziehungen entstehen lassen.
Wiederholte Umsiedlungen haben die Lebensweise der Migrantinnen und Migranten sowie ihre Einstellung zur Migration und insbesondere zu späteren Umsiedlungen beeinflusst. „Von Schamchor flohen wir nach Taschkent und dann in das Dorf Schischkaja – wir hatten unser Schamchorer Haus gegen ein Haus in diesem Dorf getauscht. Aber wir konnten nicht im Dorf bleiben: Unsere Kinder waren in Aserbaidschan in den Kindergarten, in die russische Schule und in die Musikschule gegangen. Wir konnten uns an das Leben in einem Dorf nicht gewöhnen und sind deshalb ziemlich spontan nach Kramatorsk gezogen. Es war ein Kampf ums Überleben.
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Der zweite Karabach-Krieg im Jahr 2020 und die anschließende erzwungene Massenflucht der armenischen Bevölkerung aus Karabach im September 2023 schufen erneut eine Situation, in der sich die umgesiedelten Familien am Beginn einer langen Flucht wiederfanden. Doch im Gegensatz zur ersten Phase des Karabach-Konflikts, hatten die Flüchtlinge nach dem Krieg von 2020 nicht mehr die Möglichkeit, ihr Hab und Gut zu packen, Eigentum zu tauschen oder zu verkaufen, eine Entscheidung zu treffen oder die Richtung einer möglichen Umsiedlung zu diskutieren. Die Lage war desaströs, weil sich Karabach seit Dezember 2022 de facto in einer Blockade befand und es der lokalen Bevölkerung zu Beginn der erzwungenen Flucht nicht nur an Grundnahrungsmitteln und lebensnotwendigen Gegenständen mangelte. Es fehlte auch der Treibstoff für Autos, um wegzufahren.
Aus dem Russischen übersetzt von Nika Mossessian
[∗] Dieser Artikel ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts der Autorin, das 2019 im Rahmen des Projekts Memory Guides: Sources of Information for a Peaceful Conflict Transformation des CISR e.V. Berlin durchgeführt wurde.
[1] Gamageljan, F., Rumjanzew, S., Armenien und Aserbaidschan: der Konflikt im Bergkarabach und die Neuinterpretation der Narrative in Geschichtslehrbüchern. In: Karpenko, O., Dschawachaschwili, D., Mythen und Konflikte im Südkaukasus: die Instrumentalisierung historischer Narrative. International Alert, 2013, S. 169.
[2] Gusejnowa, S., Akopjan, A., Rumjanzew, S., Kysyl-Schafag und Kerkendsch: die Geschichte eines Dörfer-Tauschs im Kontext des Karabacher Konflikts. Tiflis: Heinrich-Boll-Stiftung, South Caucasus, 2008.
[3] Gusejnowa, S., Akopjan, A., Rumjanzew, S., Kysyl-Schafag und Kerkendsch: die Geschichte eines Dörfer-Tauschs im Kontext des Karabacher Konflikts. Tiflis: Heinrich-Boll-Stiftung, South Caucasus, 2008.
[4] Alla, eine Geflüchtete aus Baku, 62 Jahre. Interview: Charkiw, April 2019.
[5] Der Ausdruck „ethnisches Heimatland“ wird hier bewusst verwendet, da im Falle der aserbaidschanischen Armenier die „kleine Heimat“ oder Geburtsort Aserbaidschan ist, während Armenien ihr „ethnisches Heimatland“ ist.
[6] Alexej, ein Geflüchteter aus Schamchor (aktuell die Stadt Schamkir in Aserbaidschan), 70 Jahre. Interview: Kramatorsk, April 2019.